Schlaglicht: Teilhabe

Wahlprogramm Grüne NRW

Aus dem Landtagswahlprogramm 2017 von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW

Soziale Teilhabe und Armutsbekämpfung

Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Mobilität, Kultur und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Nach wie vor gibt es aber viele Barrieren, was die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder die Selbstbestimmung betrifft. Grüne Sozialpolitik schafft die Voraussetzungen für die gerechte Verteilung von Gütern, sie schafft hochwertige und individuelle Angebote, an denen alle teilhaben können. Grüne Sozialpolitik steht außerdem für eine sanktionsfreie, armutsfeste Existenzsicherung, so dass Menschen individuell und frei über ihr Leben entscheiden können. Wir ermutigen und befähigen sie, ihre Chancen wahrzunehmen. An diesem Leitbild werden wir auch weiterhin unsere Politik für NRW ausrichten, denn kein Mensch soll vernachlässigt und von der Gesellschaft zurückgewiesen werden.

Wer arm ist, kann viele gesellschaftliche Angebote nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen. Das beinhaltet insbesondere den Zugang zu Bildung, Ausbildung und dem Arbeitsmarkt sowie zu umfassender Gesundheitsversorgung. Dies gilt auch für die steigende Zahl an Geflüchteten in Nordrhein-Westfalen, für die zur Gesundheitsversorgung auch spezielle Angeboten für traumatisierte Menschen gehören.

Teilhabe bedeutet aber auch Barrierefreiheit. Grüne Politik will Selbstbestimmung und individuelle Wahlmöglichkeiten eröffnen. Wir wollen Menschen mit Behinderung keinen Lebensweg vorgeben. Unser Ziel ist es vielmehr, Nachteile auszugleichen, damit eine eigenständige Entwicklung und eine selbstbestimmte Lebensgestaltung möglich sind. Dazu gehören das Recht auf eine eigene Familie, auf Partnerschaft und sexuelle Selbstbestimmung genauso wie das Recht auf Beschäftigung, auf einen angemessenen Lebensstandard, sozialen Schutz und auf Teilhabe am öffentlichen und kulturellen Leben. Vor allem bedeutet Teilhabe aber auch den gleichen Zugang zu Bildung und damit das Anrecht auf Unterricht im Regelschulsystem (Inklusion). Nicht zuletzt ist es eine Aufgabe der Gesellschaft, den Schutz vor Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch für alle Menschen zu gewährleisten, gerade dann, wenn sie besonderen Schutz benötigen.

Viel erreicht – GRÜNE Erfolge seit 2010

Wichtige sozialpolitische Akzente der Jahre 2010 bis 2017 waren die Weiterführung der „Sozialberichterstattung“ und des Landesprogramms „Hilfen für Wohnungslose“ sowie die konzeptionelle Weiterentwicklung bei der Umsetzung des „Bildungs- und Teilhabepakets“. Im Sinne einer „Strategischen Sozialplanung“ wurde ein Netzwerk zur Unterstützung eines sozialraumorientierten Planungsprozesses in den Kommunen aufgebaut. Durch Grüne Initiative entstanden Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen – wie die Kompetenzzentren für selbstbestimmtes Leben und das Aktionsprogramm „Obdachlosigkeit verhindern – Weiterentwicklung der Hilfen in Wohnungsnotfällen“. Das NRW-Sozialticket unterstützt die Teilhabe an der Mobilität. Ein Förderprogramm zur Sozialarbeit an Schulen sowie die Programme „Kein Kind zurücklassen“ und „Alle Kinder essen mit“ haben einen entscheidenden Beitrag zum Nachteilsausgleich bei Kindern und Jugendlichen geleistet.

Mit dem Aktionsplan „NRW inklusiv“ und der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention durch das Inklusionsstärkungsgesetz sind wir dem Ziel näher gekommen, Teilhabe auch für Menschen mit Behinderung umfassend zu gewährleisten. Weitere Instrumente auf diesem Weg waren und sind die Frühförderung von Kindern mit Behinderung und die Aufstockung der Förderung und die Weiterentwicklung der Arbeit der Betreuungsvereine.

Der „Hilfsfonds für Opfer von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerziehung sowie Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen“ trägt dazu bei, Entschädigung für Fehler der Vergangenheit zu gewährleisten und Verantwortung anzunehmen.

Armut vermeiden – in allen Lebenslagen

Unser Ziel ist klar: Wir wollen Armut in allen Lebenslagen vermeiden. Aus diesem Grund werden wir in der nächsten Legislaturperiode Angebote und Maßnahmen zur Armutsvermeidung weiter ausbauen und zielgruppengerecht ausrichten. Unterstützung und Hilfe sollen insbesondere im Sozial- und Lebensraum der Menschen angeboten werden. Die Förderung der sozialen Arbeit an Schulen und im Quartier sowie die anderen Programme zur Armutsvermeidung werden wir fortführen und weiterentwickeln. Dabei sollen insbesondere emanzipatorisch ausgerichtete Hilfen und Unterstützungen, die die Menschen stärken und ihre Kompetenzen fördern, im Vordergrund stehen.

Wir wollen die Hilfen für Menschen in prekären Lebenslagen weiter verbessern und sie vor allem quartiersorientiert ausbauen. So werden wir unter anderem das „Aktionsprogramm Obdachlosigkeit verhindern“ fortführen und gendersensibel ausgestalten.

Wir kritisieren zudem seit langem, dass die Hartz-IV-Leistungen nicht armutsfest sind, sondern oft bürokratisch und zudem stigmatisierend. Hartz IV verhindert eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Deshalb brauchen wir eine neue, unbürokratische und armutsfeste Grundsicherung ohne Sanktionen, dafür werden wir uns auf Bundesebene einsetzen. Dazu gehören Maßnahmen wie ein deutlich höherer Regelsatz und die Einführung einer Kindergrundsicherung, bei der dem Staat alle Kinder gleich viel wert sind und mit der Kinder- und Familienarmut systematisch bekämpft wird. Das gilt insbesondere für Alleinerziehende.

Auch wenn die Menschen heute im Alter im Durchschnitt ein deutlich höheres Einkommen haben als in früheren Jahrzehnten, ist die Einkommenssituation der Älteren sehr unterschiedlich. Armut im Alter ist auch heute vielerorts sichtbar. Dabei sind ältere Frauen viel häufiger von Armut betroffen als Männer. Aufgrund der vielen prekären Beschäftigungsverhältnisse und der unsteten Erwerbsbiografien vieler heute ist damit zu rechnen, dass in den kommenden Jahren die Zahl der Menschen, die im Alter am Existenzminimum leben müssen, deutlich ansteigen wird. Deshalb setzen wir uns dafür ein, prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu beseitigen, und werden uns auf Bundesebene für eine bessere soziale und finanzielle Absicherung im Alter einsetzen. Hierzu gehören unter anderem die Stabilisierung des Rentenniveaus, eine Garantierente oberhalb der Grundsicherung ohne Anrechnung betrieblicher und privater Vorsorge und perspektivisch eine Rente auf Basis einer starken Bürgerversicherung für alle.

Neben der materiellen Grundsicherung muss auch eine hochwertige Infrastruktur geschaffen und erhalten werden, um die persönlichen Voraussetzungen für eine Teilhabe zu schaffen. Investitionen in die Infrastruktur, beispielsweise in Bibliotheken, Volkshochschulen, Jugendzentren oder Schwimmbäder, helfen auch, Wachstum zu schaffen. Denn soziale Infrastruktur bedeutet gesellschaftlichen Mehrwert. Sie ist ressourcenschonender als individueller Konsum. Sie schafft Arbeitsplätze und schont die Mittel derjenigen, bei denen sie am knappsten sind.

Daher richten wir klare Forderungen auch an den Bund: Die Finanzierung der kommunalen Daseinsfürsorge muss dauerhaft gesichert werden. Hierzu zählen die aktive Wirtschaftsförderung und die aktive Arbeitsmarktpolitik, um wohnortnahe Beschäftigungsmöglichkeiten zu erhalten und zu schaffen, sowie ein ÖPNV-Angebot, das die Fahrt zum Arbeitsplatz überhaupt ermöglicht.

Teilhabe fördern

Selbstbestimmt zu leben in der eigenen Häuslichkeit darf nicht vom Geldbeutel abhängig sein. Deshalb brauchen wir ein gutes Angebot an bezahlbarem Wohnraum auch für Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung. Schon seit langer Zeit setzen wir GRÜNE uns dafür ein, dass die Kosten für selbständiges Wohnen mit einer umfassenden Unterstützung und Pflege auch dann übernommen werden, wenn sie über denen einer Heimunterbringung liegen (Aufhebung des Kostenvorbehalts), denn die bestehende Regelung verletzt die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (Artikel 19).

Es widerspricht dem Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe, wenn Menschen mit Behinderung oder Pflegebedarf nicht selbst entscheiden können, wo und mit wem sie wohnen wollen. Wir setzen uns deshalb mit Nachdruck für einen Paradigmenwechsel ein: weg von Groß-‐ und Sondereinrichtungen, hin zu quartiersbezogenen Wohn-, Pflege- und Unterstützungsangeboten, die eine umfassende Versorgungssicherheit im selbst gewählten Wohnquartier bieten. Dies gilt auch für Menschen, die rund um die Uhr Unterstützung benötigen.

Um dies zu gewährleisten, werden wir die notwendigen Rahmenbedingungen für geschlechter- und generationengerechte Konzepte schaffen und die Angebote und Einrichtungen fördern, die der kulturellen Vielfalt der Bevölkerung und der Gesellschaft entsprechen. Dafür werden insbesondere Angebote für Mädchen und Frauen mit Behinderungen benötigt. Diese müssen doppelte Barrieren überwinden einerseits ist für sie der Zugang zum Arbeitsmarkt besonders schwierig, andererseits die Gefahr deutlich größer, Opfer von Gewalt zu werden. Deshalb benötigen diese Frauen und Mädchen besondere Angebote der Gewaltprävention.

Ausgehend von der UN-Behindertenrechtskonvention unterstützen wir die Entwicklung hin zu einem inklusiven Gemeinwesen, bei dem die Kommunen, Stadtteile und Quartiere so gestaltet werden, dass alle Menschen – mit und ohne Behinderungen – gleichberechtigt im Quartier leben, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und ihnen im Bedarfsfall eine Versorgung im Wohnumfeld gesichert werden kann. Wesentlich im Rahmen dessen wird die Realisation von Barrierefreiheit sein, nicht zur im baulichen Bereich, sondern auch bei der Kommunikation und beim Zugang zur sozialen und wirtschaftlichen Umwelt. Selbstbestimmung und Teilhabe dürfen auch dann nicht enden, wenn die Lebenssituation besonders herausfordernd bereithält ist.

Das Bundesteilhaberecht muss Selbstbestimmung, Wunsch- und Wahlrecht sicherstellen. Wir GRÜNE setzen uns mit Nachdruck dafür ein, dass das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung gestärkt wird. Die selbstbestimmte Entscheidung über den Wohnort, die Wohnform und die Gestaltung von sozialen Kontakten muss gesichert sein. Das bedeutet auch, dass hier eine gemeinsame Leistungserbringung (Pooling) nicht gegen die Zustimmung der betroffenen Menschen erfolgen darf. Zudem muss jede*r je nach individuellem Bedarf und unabhängig vom Lebensalter einen gesicherten Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe und Pflege haben und diese auch erhalten. Menschen mit Behinderung, die zur Teilhabe Unterstützung benötigen, müssen auch weiterhin die erforderlichen Leistungen erhalten, auch wenn sie diese nur für einzelne Lebensbereiche oder nur zeitweise benötigen. Wir setzen uns dafür ein, dass bei der Leistungserbringung keine Fokussierung auf Billiganbieter erfolgt, da dies zu einer Preisspirale nach unten und damit zu einer Aushöhlung der Tarifvereinbarungen führen würde, was auch eine Absenkung der Arbeitsqualität der befürchten ließe. Wir setzen uns für einen vollständigen Verzicht auf die Anrechnung von Einkommen und Vermögen bei der Gewährung von Eingliederungshilfe ein.

Darüber hinaus wollen wir die Entwicklung von Beratungs- und Beteiligungsgremien zur Umsetzung der Inklusion vor Ort unterstützen. Dabei ist es wichtig, dass die Interessenvertretungen in die kommunale politische Arbeit einbezogen werden. Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen sollen einen gleichberechtigten und barrierefreien Zugang zu den demokratischen Entscheidungsprozessen erhalten.

In diesem Sinne ist es notwendig, aktiv eine Kultur zu schaffen, in der die politische Mitgestaltung von Menschen mit Behinderung vor Ort ermöglicht, gewollt und gemacht wird. Hierbei sind insbesondere kommunikative Barrieren durch die Anwendung der Deutschen Gebärdensprache oder der sogenannten Leichten Sprache (vereinfachte Sprache) zu überwinden.

Im Sinne der gesellschaftlichen Inklusion muss die Deutsche Gebärdensprache Allgemeingut und die Lehre und Ausbildung zu Gebärdensprachdolmetscher*innen ausgeweitet werden. Unsere Zukunftsperspektive ist, dass auch Kitas und Schulen entsprechenden Unterricht zum Spracherwerb anbieten. Wir wollen den Aufbau eines flächendeckenden Netzes von Gebärdensprachdolmetscher*innen fördern. In der kommenden Legislaturperiode wollen wir die Rahmenbedingungen für die Arbeit zur Gewinnung und Begleitung ehrenamtlicher Betreuer*innen weiter verbessern und die Weiterentwicklung der Arbeit der Betreuungsvereine unterstützen. Auch deshalb sehen wir die Novellierung des Betreuungsrechts als eine zentrale Aufgabe an – insbesondere vor der Zielsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Betreuung muss originär das Ziel haben, die Menschen zu befähigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wir wollen hin zu einer Begleitung, die eine weitestgehende Selbstbestimmung anstrebt. Hier ist der Bund gefordert, einen Paradigmenwechsel einzuleiten und auch finanziell zu unterlegen.

Soziale Teilhabe – das wollen wir GRÜNE:

  • Armut vermeiden und ihre Ursachen angehen
  • inklusive und integrierende Sozialraumentwicklung
  • Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung
  • das Betreuungsrecht novellieren

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